Das angehaltene Leben/Ein stilles Schreien

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Ein stilles Schreien

Ulfrid Kleinert. Sächsischen Zeitung, 9 dicembre 2017.

Maurizio Torchio zieht den Leser in die Gedankenwelt eines Entführers und Mörders, der lebenslänglich in Einzelhaft sitzt.


Was für ein atemberaubender Roman! Der deutsche Titel „Das angehaltene Leben“ folgt dem italienischen „Cattivi“ und meint Ausgeschlossene, Verworfene. Hier werden Gefängnis, Insassen und Personal beschrieben wie ein Mythos, der tiefe Wahrheiten über den Menschen offenbart. Es ist ein Roman, der nicht nur exakte Kenntnisse der Vorgänge in den Strafanstalten vermittelt und verdichtet. Man meint, die Seele des Gefängnisses zu spüren und die der Menschen, die dort leben und arbeiten. Der 1970 in Turin geborene Autor Maurizio Torchio muss lange „gesessen“ oder viele gute Freunde unter den Insassen haben. Die letzte Vermutung stimmt wohl, jedenfalls, wenn man Schriftsteller wie Don Carpenter, Jack London, Norman Mailer und Manuel Puig dazuzählt, die ihre Gefängniserfahrungen literarisch reflektierten.

Torchio ist ein Philosoph, ein Dichter und ein exzellenter Sachkenner zugleich. Sein Buch ist nicht minder schön als erschreckend. Seine Sprache karg, präzise, manchmal scheinbar brutal, dann wieder von einer zarten Aufmerksamkeit und gesättigt von sensibler Beobachtung – und offensichtlich kongenial von Anette Kopetzki ins Deutsche übersetzt.

Es beginnt mit der Eingangskontrolle eines Inhaftierten, der hier noch ein „Du“ ist und später zum „Ich“ oder „Wir“, zu „Toro“, „Piscio“, „Martini“ oder zum „Jungen“ wird. „Sie sagen: Mund. Du machst den Mund auf. Die Türen des Körpers öffnen sich auf Befehl. Du öffnest den Mund, doch sie nähren dich nicht. Sie fügen nichts hinzu, sie kontrollieren, damit du nichts hast.“ Der Inhaftierte ist von einem Ausgang zurückgekommen, von einer Frau, die das Gefängnis kennt. „Sie denken, wenn du seit zwanzig Jahren keine Frau hattest, willst du dich schon auf der Straße überfressen. Doch wer das Gefängnis kennt, wird dich nach Hause bringen, dich Tropfen für Tropfen sättigen. Ihr werdet nachmittags zu ihr gehen, hoffen, dass es bald dunkel wird. Sie wird dir einen Kaffee anbieten. Und du wirst reden. Du wirst reden. Du musst dir den Mund ausleeren. Ein bisschen Gefängnis rauslassen. Wenn du nicht redest, ist kein Platz für anderes.“

Und genauso redet Maurizio Torchio. Er spricht von einem Ort am Rand der Welt, wo der Erzähler an seine Grenze stößt. Wo die Zeit stehen bleibt, weil es ein Ort ist, an dem die Gewalt nicht aufhört – und zugleich eine ewige Ordnung herrscht. Menschen handeln archaisch wie in uralten Mythen. Gefängnis spiegelt Gesellschaft, es ist nur durch eine Mauer oder einen Hundezwinger von ihr getrennt, es dringt ein bis in die letzte Faser des Körpers. Alle Menschen haben eine Rolle und Spielregeln, nach denen sie funktionieren: als „Wärter“, als „Commandante“ oder als Teil einer Bande, die auch von drinnen die Welt draußen regelt. Es gibt Häftlinge 2. und 1. Klasse, sie sind der Junge, der Boss oder sich selbst überlassen in der Stille der Isolationshaft. Trotzdem hat das „Ich“ des Erzählers eine Geschichte. Er war – man ist geneigt zu sagen: in seinem früheren Leben – einer, der als kleiner Teil einer Geiselnahme die „Kaffeeprinzessin“ bewacht hat. Ihr Vater war im Überseehandel reich geworden, nun soll er um Geld erpresst werden. Das gemeinsame Leben der Geisel und ihres Bewachers dauert 212 Tage. Szenen zeigen den behutsamen Umgang der beiden, die aufeinander angewiesen sind. Da ist Scham und Zuneigung, Mitfühlen und notwendiges Sich-Abgrenzen, auch Angst und die Rücksichtnahme darauf.

Allzu schnell wird das nach der Geiselnahme der RAF in der schwedischen Botschaft der Bundesrepublik als „Stockholm- Syndrom“ abgetan. Doch auch in einem Zwangskontext gibt es Gefühle und Begegnung. Freilich ohne Zukunft.

Ganz anders die Szene Jahre später. Die Prinzessin ist frei. Der Erzähler ist gestellt und verurteilt. Aber sie haben ihn in zwei Jahren und zwei Monaten Isolationshaft nicht zwingen können, zum Verräter an den Mittätern zu werden. Als der „Wärter“ ihn endlich unter dem Applaus der Jungs hinter den Gitterfenstern aus der Isolationshaft holt, bringt er ihn jedoch nicht zu den anderen Gefangenen. Er bringt ihn in die Abteilung der Verräter – als solcher soll nun auch der Erzähler erscheinen und verstoßen werden.

Er wirft sich zu Boden, schreit, dass alles eine Lüge sei. Und erinnert sich an das in den hohlen Beinen der Bank am Hofrand versteckte Messer. Mit 35 Stichen ermordet er den verdutzten Wärter. Der Erzähler wird verurteilt. Der Gefängniscomputer nennt als Entlassungsdatum den 99. 99.9999. Lebenslänglich kennt er nicht. Für die anderen aber ist der Erzähler damit von einem Häftling 2. Klasse zu einem 1. Klasse aufgestiegen.

Am Ende des Buches erinnert sich der Ausgeschlossene an die Angst der Prinzessin, als er einmal von einem Einkauf verspätet in das Höhlenversteck zurückkehrte, in dem sie lebten: „Die Angst, angekettet zu sterben: nicht getötet, nein, zum Sterben vergessen zu werden.“ Zu diesem Vergessenwerden ist der Erzähler auch jetzt nicht bereit. Schreibend wehrt er sich dagegen. Mit dem stillen Geschrei, das durch Mark und Bein geht.

Es ist ergreifend, wie der Autor all die subtilen und die offenkundigen menschlichen und unmenschlichen Vorgänge in der Subkultur des Gefängnisses in eine karge Sprache fasst. Fairerweise müsste man auch davon berichten, dass anders als früher einige Justizvollzugsbedienstete heute die Kritik an der gängigen Gefängnispraxis teilen. Statt „Wärter“ wollen sie Begleiter und Unterstützer für ein gutes Leben werden. Sie brauchen dafür Rahmenbedingungen, für die das Gefängnis nicht Regelstrafe ist, sondern höchstens das letzte Mittel, wenn gar nichts anderes mehr geht. Sie brauchen das, was wirklich eine „Resozialisierung“ ermöglicht. Dazu bedarf es neuer rechtlicher Grundlagen. Und einer Praxis, an der alle mitwirken: Verurteilte und Justizpersonal, Betriebe und Verwaltungen, Städte und Gemeinden.


Ulfrid Kleinert leitet den Anstaltsbeirat der Justizvollzugsanstalt Dresden und den Verein zur Förderung Strafgefangener und Haftentlassener.

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