Das angehaltene Leben/Ex libris
Da mauriziotorchio.
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Ex libris
(Mitschrift der Sendung)
Wie fühlt sich ein Leben in völligem Stillstand an? In „Das Angehaltene Leben“ begibt sich die Leserin mit einem Häftling in die dunkle Einzelzelle eines hundert Jahre alten Gefängnisses, irgendwo an der italienischen Küste. Vier Schritte ist die Zelle lang, zwei Armlängen ist sie breit. Auf die Zehenspitzen gestellt kann man die Decke berühren. Fenster gibt es keines. Der Insasse sitzt hier in Isolationshaft. Er hat eine Entführung und später einen Mord begangen. Nun ist er verdammt zur völligen Untätigkeit für den Rest seines Lebens. Angewiesen auf kleinste Geräusche aus dem Gefängnisalltag in den oberen Stockwerken, die das alte Gemäuer ihm ab und an zukommen lässt. Etwa das Marschieren der Wärter, wenn sie es mal wieder gemeinsam auf einen Häftling abgesehen haben.
Ich höre ihre Rattenbeinchen, die sich auf den Weg machen, zum Prügeln. Ich höre sie marschieren, dann fast unwillkürlich in Laufschritt verfallen. Durch die lange Zeit hier unten habe ich Wurzeln im Zement geschlagen, mir sind Nerven für das ganze Gefängnis gewachsen. Wenn einer durch den Gang unterm Hof geht ist es, als ginge er über meinen linken Arm. (S.114)
Isolationshaft ist eine bewährte Methode, um Menschen innerlich zu brechen. Das hierzulande berühmteste literarische Beispiel dafür ist wohl die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig. Ein Gefangener des NS-Regimes soll durch Isolationshaft zum Reden gebracht werden. Er kann seinen Verstand nur retten, weil es ihm gelingt, ein Schachlehrbuch in seine Zelle zu schmuggeln. -In Maurizio Torchios Roman „Das Angehaltene Leben“ geht es nicht um einen politischen Gefangenen. Der namenlose Protagonist, im früheren Leben ein LKW-Fahrer, war ein profaner Krimineller, unterster Kopf einer Entführerbande. Aber auch er zieht die Isolationshaft dem Verrat an der Gruppe, dem Verlust von Stolz und Ehre, vor. Um zu geistig zu überleben, erinnert er sich. Etwa an jene Monate, die er mit seinem Entführungsopfer, der Tochter eines Kaffeeproduzenten, in einem Versteck im Wald verbrachte. Sein angehaltenes Leben fährt sozusagen im Rückwärtsgang weiter.
Draußen ist keine Zeit, sich umzudrehen, erst als Gefangener lernst du das Erinnern. Anfangs plünderst du wahllos, nimmst das, was du gerade im Moment brauchst, damit es dir bessergeht, oder schlechter. Die ersten Male, die letzten. Urlaub in exotischen Ländern, Unfälle. Doch eine Erinnerung ruft die nächste herbei, und wenn sie merken, dass genug Platz ist in dir, kommen sie in Massen. Der ganze riesige Schwarm von Erinnerungen kommt auf dich zu und bewohnt dich. Die Jahre des Gefängnisses sind mit denen gefüllt, die vor ihnen lagen. (S.206)
Im Zentrum der Gedanken des Gefangenen stehen Geschichten über das Gefängnis. Erinnerungen an ehemalige Zellengenossen werden mit den Geräuschen der Gegenwart verwoben. Im Gefängnis ergeben Insassen, Wärter und Gebäude einen absurden Mikrokosmos, der sich aber immer in Beziehung zur Außenwelt definiert. Pakete von draußen, Besuche von Frauen und Kindern teilen die Häftlinge in zwei Gruppen: jene, für die sich draußen noch jemand interessiert und jene, die schutzlos sind. Da gibt es etwa den inoffiziellen Gefängniskönig Toro. Oder den legendären Martini, der die Liebesbriefe seiner Freundin an Knastkollegen verkaufte und sie dann mit dem Gefängniswärter verkuppelte um seinen Ausbruch vorzubereiten. Und es gibt die Brutalität der Wärter.
Jedes Mal, wenn ein neuer Schub Gefangener ankam, nahmen sie ihnen als erstes das Gebiss weg. Innerhalb einer Woche wurde aus den Anführern, die fast alle nicht mehr jung waren, ein Haufen alter Männer. Die Jungen fragten sich: können wir zahnlosen Männern noch gehorchen? Und auch wenn sie dir das Gebiss später wiedergeben ist es nicht mehr das Gleiche, denn du weißt, dass sie es dir unter jedem beliebigen Vorwand jeden Augenblick wieder wegnehmen und zertrümmern können. (S.38)
Mit den Wärtern möchten allerdings nicht einmal die Gefangenen tauschen – sie sind an diesem Ort tristere Figuren als die Häftlinge selbst. Die Gesellschaft verachtet sie. Denn Wärter wird man nur, wenn man die Prüfung für den Polizeidienst nicht bestanden hat. Für die Welt sind die Wärter die Angestellten des Bösen, diese Worte legt der Autor seinem Protagonisten in den Mund. Der Insasse entpuppt sich nach all den Jahren der Isolation als überraschend reflektierter, beinahe philosophischer Denker.
Draußen gibt es eine Menge Leute, die sich mit fünfzig umbringen, denn sie haben begriffen, dass die Welt nichts mehr von ihnen erwartet. Hier dagegen glaubst du, wenn deine Haft mit sechzig verbüßt ist, dass du noch alles machen kannst. Dass du Astronaut, Tänzer, Unternehmer werden kannst. Als steckten die Dinge des Lebens in einem Sack, in den du nicht hineinsehen kannst, aber du spürst, dass er etwas wiegt, und wenn du so wenig herausgeholt hast, muss doch noch etwas dringeblieben sein. All das unverbrauchte Leben muss sich irgendwo aufgespart haben. (S.200)
Hoffnung ist das Überlebenselixier der Inhaftierten. Selbst der lebenslänglich Verurteilte hat mit dem Rauchen aufgehört, um länger zu leben, er hofft auf Gesetzesänderungen oder eine spektakuläre Befreiungsaktion. - Eine Weile ist die Leserin mit dem Häftling in seiner Zelle gesessen. Hat sich mit seinen Erinnerungen und Phantasien von Einsamkeit und Stille ablenken lassen. Doch dann macht der Roman einen Schwenk. Nun verblassen die Erinnerungen, nun drängt sich die Gegenwart unerbittlich auf. Und erst jetzt wird es so richtig eng hier. – „Das Angehaltene Leben“ ist eine faszinierende Beschreibung eines menschlichen Ausnahmezustands, die so brutal wie poetisch zu lesen ist. Und die erst im letzten Moment noch zu einer Geschichte wird aus der man heilfroh ist, einfach wieder aussteigen zu können.