Das angehaltene Leben/WDR 3 Buchrezension
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WDR 3 Buchrezension
Der italienische Schriftsteller Maurizio Torchio hat den Monolog eines Gefangenen verfasst, der Titel seines Romans: "Das angehaltene Leben". Es ist die beklemmende Innenansicht einer entwürdigten und ohnmächtigen Gestalt.
Verdammt dazu, vergessen zu werden
"Wer viele Jahre im Gefängnis verbringt, bleibt manchmal auf seltsame Weise jung. Regelmäßiges Essen, regelmäßiger Schlaf, keinerlei Verantwortung… Du isst Scheiße, aber regelmäßig." Der Ich-Erzähler ist ernüchtert, aber noch nicht abgestumpft, sondern im Gegenteil: hellwach. Er registriert den Aufbau des Gefängnisses, die Abhängigkeiten, die Befehlsstrukturen, die allgemeinen Regeln. Als Gefangener ist er verdammt dazu, vergessen zu werden. Zum Selbstschutz verfasst er einen Monolog, um ein paar Worte zu hinterlassen. Es entsteht so etwas wie das Testament eines Gefangenen, abgründig und schwer verdaulich.
"Als ich verhaftet und dann zu dreißig Jahren verurteilt wurde, dachte ich: bei leidlich guter Führung bin ich in zwanzig Jahren draußen, und mit fünfundvierzig kann man noch viele Kinder machen, wenn man will … Dann habe ich den Wärter umgebracht und sie haben mir lebenslänglich ohne Haftaussetzung zur Bewährung gegeben. In die Computer schreiben sie 99/99/9999, denn Computer brauchen ein genaues Datum für das Ende. Lebenslänglich ist etwas, was ein Computer nicht verstehen kann. Kinder sind etwas, was ich nicht verstehen kann."
Worte, es gibt dort nichts anderes
(O-Ton: Torchio) "In this empty place you as a narrator hope that words are more heavy, they are more important. There is nothing else. The things you tell in prison are much more important. From the things you tell in prison it can depends your life, the life of other people. Even when is not a matter of life or death, even if it’s just remember in the past or some silly hope for the future the words are important in prison. And this probably is one of the reasons why its interesting to tell a story in prison."
(Übersetzung:) "In diesem stillen, leeren Ort eines Gefängnisses, hoffst du als Erzähler, dass Wörter schwerer wiegen, wichtiger sind. Es gibt dort nichts anderes. Die Dinge, die du im Gefängnis erzählst, sind sehr viel wichtiger als anderswo. Von den Dingen, die du im Gefängnis erzählst, kann dein Leben abhängen oder das Leben anderer. Selbst wenn es nicht um Leben oder Tod geht, selbst wenn es nur darum geht, die Vergangenheit zu erinnern oder einige verrückte Hoffnungen für die Zukunft zu haben, sind Wörter im Gefängnis wichtig. Und das ist wahrscheinlich einer der Gründe dafür, warum es interessant ist, eine Geschichte aus dem Gefängnis zu erzählen."
Er wollte anständig bleiben
Der Ich-Erzähler hatte sich an der Entführung einer Millionärstochter beteiligt und war durch einen dummen Zufall verhaftet worden. Im Prozess hatte er keinen seiner Komplizen verpfiffen, er wollte anständig bleiben, seine Haft absitzen. Doch eines Tages flippt er im Gefängnis aus und wird zum Mörder. Der Gefängnisdirektor hatte eine Verlegung ausgerechnet in jenen Trakt verfügt, der ihn in den Augen von Mitgefangenen eben doch zum Verräter stempelte, denn dort wurden zwielichtige Gestalten untergebracht. Die ohnmächtige Wut kriegt ein ahnungsloser Wärter ab, er stirbt unter den Messerstichen des rasenden Ich-Erzählers.
(O-Ton: Torchio) "The prison is intoxicating from whoever leaves it. And this is one of the reason why I choose in my book to put only prison guards and prisoners. In real life obviously the prison system is much more complicated. There are civilian people, legal council… But when night comes just two kind of people live inside prison. And so somehow they are the two kind of people which absort much more of the poison of the jail system."
(Übersetzung:) "Das Gefängnis ist betäubend für jeden, der es verlässt. Und das ist einer der Gründe, warum ich nur das Innenleben des Gefängnisses geschildert habe. Im realen Leben erscheint das Gefängnissystem sehr viel komplizierter. Es gibt darin auch Zivilisten und Rechtsanwälte. Aber wenn die Nacht kommt, leben nur diese beiden im Gefängnis, der Wärter und der Gefangene. So sind es diese beiden, die am meisten vom Gift im Gefängnissystem aufnehmen."
Ein perverses System vertaner Zeit
Maurizio Torchio seziert dieses perverse System vertaner Zeit, wie er es im Gespräch bezeichnet. Die Gleichförmigkeit. Das Versorgtsein. Den Putzzwang. Den Drogenhandel. Die schmerzenden Erinnerungen und die naiven Hoffnungen auf eine Zukunft, die es nicht geben wird.
"Vorher denkt man viel über die Verhaftung nach. Fragt sich: Wie wird es sein? Werde ich es vorher merken, werde ich sie kommen hören? An die Verhaftung zu denken ist ein bisschen, wie an den Tod zu denken. (…) Es gibt natürlich Leute, die werden so oft verhaftet, dass sie sich nicht an jedes einzelne Mal erinnern können, doch für mich war es die einzige, DIE VERHAFTUNG, in Großbuchstaben. Die, die das Leben anhält."
"Das angehaltene Leben"
So lautet der Titel im Deutschen. Denn es findet ja in dieser Zeit hinter Mauern und Gittern in Wirklichkeit nichts weiter statt, als seine Zeit zu vertun, als ein Leben nicht zu leben, lebendig begraben zu sein.
(O-Ton: Torchio) " I’m very happy about the german title. Because it is an idea of a life that has somehow to reduse itself, to stop. Life in standbye. They told me you use this verbe when you stop breathing. (…) It’s a kind of fabrique, an industrie. It’s a machine and it’s only purpose is doing time. Time in it’s purest form."
(Übersetzung:) "Ich bin sehr glücklich über den deutschen Titel. Weil er die Idee von einem Leben enthält, das sich irgendwie zu reduzieren hat, angehalten werden muss. Leben in standbye-Position. Man sagt mir, dass Sie im Deutschen dieses Verb benutzen, wenn Sie den Atem anhalten. Das Gefängnis ist eine Art Fabrik, eine Industrie. Es ist eine Maschine und ihr einziger Zweck ist es, Zeit zu vertun. Zeit in seiner reinsten Form."
Gedanken über das Leben, das Altern, die Liebe, den Sinn und den Unsinn des Daseins
Maurizio Torchio hat Philosophie und Kommunikationswissenschaften studiert – das kann er in seinem Roman auch nicht verhehlen. Seine Sprache ist einfach und klar, aber die Gedanken, die er vermittelt, sind philosophisch grundiert. Auf die Idee zu seinem Roman kam er, als er selbst in einer vereinsamten, isolierten Phase seines Lebens steckte und sich fragte, wie es Gefangenen hinter Mauern und Gittern eigentlich erginge. Torchio lässt seinen Erzähler über das Leben nachdenken, das Altern, die Liebe, den Sinn und den Unsinn des Daseins, die Folter in verschiedenen Formen. Er versinnbildlicht in diesem Stillstand der Zeit, was das Gefängnis aus den Menschen macht. Er sagt, was es heißt, Mensch zu sein, indem er all das aufzeichnet, was in einem Gefängnis fehlt. Zurück bleibt am Ende nichts weiter als eine leere Hülle vom Menschen.
"Ich kann mir noch so sehr den Kopf zerbrechen, ich schaffe es nicht, mir die Art Erfahrungen vorzustellen, die einen Menschen verändern. Die Entscheidungen, die Reue, die Erfolge, das Scheitern, die Begegnungen. Hier verfällt nur der Körper, langsam, wie ein undichter, tropfender Wasserhahn. Hier scheiterst du sofort auf ganzer Linie, hundertprozentig, wenn du reinkommst, und danach stellt sich das Problem nicht mehr. Das Gefängnis kümmert sich nicht um Details, es widerlegt dich nicht in einzelnen Dingen. Es sagt zu dir: Du bist nichts."